Rätsel um Passivierung reibarmer, harter Kohlenstoffbeschichtungen gelöst

Berechnung trockener Reibung mittels Kraftfeld für molekulardynamische Simulation

 

Diamant- und diamantähnliche Kohlenstoffschichten (DLC) sind als extrem beständige Oberflächen in Reibkontakten zu finden – von Raumfahrtkomponenten bis zu Rasiergeräten. Sie verringern Reibung und Verschleiß in Lagern oder Ventilen mithilfe sogenannter Passivierungsschichten, die Anbindungen anderer Materialien verhindern. Bisher war unklar, wie diese Schichten aufgebaut sein müssen, um minimale Reibung zu erzielen. Forscherinnen und Forscher des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM, MikroTribologie Centrum µTC, haben nun einen Durchbruch beim Verständnis der Passivierungen erzielt. Die unerwarteten Ergebnisse sind im Fachjournal »ACS Applied Materials & Interfaces« veröffentlicht.

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Reibkontakt zweier Fluor-terminierter DLC Oberflächen (Kohlenstoff grau). Die (grünen) Fluor-Terminierungen können zu »Hindernissen« im Reibspalt werden und Reibung erhöhen.

Harte Kohlenstoffbeschichtungen sind weltweit im großindustriellen Maßstab im Einsatz. Ein besonders starker Nutzer ist die Automobilindustrie, die jährlich mehr als 100 Millionen beschichteter Teile einsetzt mit einem Marktvolumen von mehreren 100 Millionen Euro. Weitere wichtige Anwendungsfelder sind Schutzschichten für Computerfestplatten und Aufzeichnungsköpfe als auch der Verschleißschutz von Schneid- und Formwerkzeugen in Produktionsmaschinen oder bei biomedizinischen Komponenten.

»Um die erwünschte ultrakleine Reibung zu erreichen, ist eine stabile Passivierung der ungesättigten Bindungen an der Kohlenstoff-Oberfläche notwendig«, erläutert Thomas Reichenbach aus der Gruppe Multiskalenmodellierung und Tribosimulation. Für die Passivierung kommen allerdings zahlreiche Stoffe infrage: der gängigste ist Wasserstoff. Eine vielversprechende, technologisch relevante Alternative hingegen ist Fluor. Beide Varianten sorgen für stabile, monoatomare Passivierungen. »Wir wollten ergründen, unter welchen Umständen welche Passivierung besser ist und vor allem warum, denn die Wirkweisen sind bisher noch kaum verstanden«, erklärt der Simulationsexperte für atomare Computermodelle. Für diese Arbeiten hat Thomas Reichenbach den mit 3.000 Euro dotierten Werkstoffmechanik-Preis 2020 des Fraunhofer IWM erhalten, der im Kuratorium verliehen wurde.
 
Die vorherrschende Meinung der Fachliteratur besagt, dass die Ladung der für die Passivierung eingesetzten Atome für den Unterschied zwischen Wasserstoff und Fluor verantwortlich ist. Auf diesem Hintergrund erklärt sie auch die geringere Reibung von F-passivierten Flächen gegenüber den H-passivierten mit der größeren Abstoßung der beiden Fluor-Flächen. »Wir waren da skeptisch, denn das elektrische Feld von dicht gepackten Kohlenstoff-Fluor-Bindungen hat nur eine sehr geringe Reichweite. Genau das ist ja auch die Ursache für den Abperl-Effekt von Teflon-Beschichtungen in Bekleidung oder Kochutensilien«, sagt Doktorand Reichenbach.

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Reibkontakt zweier Wasserstoff- (oben, weiß) und Fluor-terminierter (unten, grün)) Diamantoberflächen (grau): Fluor-Passivierung halbiert die Reibung im Vergleich zur Wasserstoff-Passivierung.

Interatomares Kraftfeld beschreibt Reibung

Um die Zusammenhänge zwischen den strukturellen und chemischen Eigenschaften der Passivierungen und der Reibung zu erklären, entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Fraunhofer IWM in langjähriger Kleinarbeit ein sogenanntes interatomares Kraftfeld. Dieser maßgeschneiderte mathematische Formalismus beschreibt die Wechselwirkung der an der Reibung beteiligten Atome. Alle vermeintlich an der Reibung beteiligten Parameter, bestimmt aus präzisen, aber rechnerisch aufwändigen quantenmechanischen Berechnung, fließen darin ein – etwa die Atomradien, -massen oder Ladungen. Auf Basis dieses rechnerisch effizienten Kraftfeld-Modells wiederum konnten sie als erste weltweit im Computer etwa hunderttausend Atome in den Reibkontakten simulieren, Daten zu ihrem Verhalten und ihren Wechselwirkungen in der Anwendung prognostizieren und so die Reibung direkt bestimmen.  
 
Um herauszufinden, welche Parameter für die Reibung wirklich entscheidend sind, nutzte das Forschungsteam dann einen Trick: »Man muss sich das vorstellen, als würde man Sicherungen in einer erleuchteten Wohnung durchprobieren, um die richtige zu finden«, veranschaulicht Reichenbach das Vorgehen. Da die Passivierung mit Fluor die Reibung auf atomar planen Diamantschichten gegenüber der Wasserstoffpassivierung in etwa halbiert, vertauschten sie im Kraftfeld Schritt für Schritt die Parameter von Wasserstoff und Fluor. »Sollte der Parameter wirklich relevant sein für die Reibung, hätten wir in der Simulation eine Umkehrung der Reibwerte von Wasserstoff und Fluor gesehen«, so Reichenbach.

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Elektronendichte zweier Wasserstoff-terminierter (links) und Fluor-terminierter (rechts) Diamantoberflächen: große Fluor-Atome verhindern Ineinandergreifen der Oberflächen und verringern so Reibung.

Alleine geometrische Parameter sind von Belang für Passivierung

Die Ergebnisse sind unerwartet: Sowohl bei den Atommassen als auch bei den Atomladungen erfolgte keine Reibwert-Umkehrung beim Parametertausch – dafür jedoch bei den Atomradien in Verbindungen mit deren Bindungslängen zu Kohlenstoff. »Das heißt: allein geometrische Parameter sind für die Optimierung der Reibung von Bedeutung«, verdeutlicht Reichenbach die Überraschung. Mit diesen grundlegenden Erkenntnissen konnte das Team um Reichenbach auch gleich die Vorteile der Fluor-Passivierung bei planen Diamantoberflächen begründen. Durch die größeren Atomradien wird bei zwei F-passivierten Reibpartner-Oberflächen das Ineinandergreifen der beiden Flächen verhindert: Die Reibpartner gleiten recht störungsfrei aneinander vorbei, da sich der »atomare Reißverschluss« nicht schließen kann. Bei den kleineren Wasserstoffatomen ist das hingegen möglich: sie können sich verzahnen und so die Reibung vergrößern. Fluor-Kohlenstoff-Bindungen sind die stärksten aller chemischen Bindungen. Durch ihre Langlebigkeit ist die Fluor-Passivierung daher sehr interessant für tribologische Anwendungen. Ihr Nachteil: Die größeren Fluoratome können jedoch bei nicht planen DLC-Oberflächen zu Hindernissen werden, wenn sie sich an Oberflächenerhöhungen anhängen, wodurch sich die Reibung wieder erhöhen würde. »Die Forschung an den Passivierungen steht noch am Anfang. Wir haben mit unserer Grundlagenforschung jetzt eine Tür aufgestoßen, aber die Ergebnisse müssen auch noch mit hochpräzisen Experimenten überprüft werden«, sagt der stellvertretende Gruppenleiter Dr. Gianpietro Moras. Die neue »Schalter-Methode« aus Freiburg ließe sich jedenfalls ohne Probleme auf andere Reibkontakte übertragen. Dazu müsste das Kraftfeld-Modell an die speziellen Rahmenbedingungen angepasst werden, beispielsweise an andere Passivierungsatome oder Oberflächengeometrien. Die Methode ermöglicht, Designregeln für optimal terminierte reibungsarme Systeme zu entwickeln. Zum Beispiel könnten systematisch Alternativen zur Fluorpassivierung gefunden werden. Denn fluorierte Kohlenstoffmoleküle besitzen zwar hervorragende tribologische Eigenschaften, werden aber aufgrund der negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einigen Anwendungsbereichen zunehmend gemieden.
 
Die Forschungen der Gruppe Multiskalenmodellierung und Tribosimulation zu den Passivierungen waren Teil geförderter Forschungsprojekte vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie von der Deutsche Exzellenz Strategie – EXC.

 

Originalpublikation:

Reichenbach, T.; Mayrhofer, L.; Kuwahara, T.; Moseler, M.; Moras, G., Steric effects control dry friction of H- and F-terminated carbon surfaces, ACS Applied Materials & Interfaces 12/7 (2020) 8805-8816 Link

 

Link zur Pressemitteilung auf der Seite des Fraunhofer IWM

 

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