Die Zwillingsgrenze als Zeuge für ansonsten verborgene Prozesse
Christian Haug
Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass durch Versetzungen akkommodierte plastische Verformung den Reibungskoeffizienten beeinflusst. D.h. es gibt eine Rückkopplung zwischen der tribologische Belastung, der von ihr verursachten mikrostrukturellen Änderungen und den Eigenschaften des tribologischen Systems; namentlich Reibkraft und Verschleiß.
Die diesen Vorgängen zugrunde liegenden elementaren Verformungsmechanismen sind jedoch nicht ausreichend genug verstanden, um systematische Material- und Mikrostrukturentwicklung betreiben zu können. Dies gilt insbesondere für die frühen Stadien der tribologischen Belastung. In der vorliegenden Arbeit wurde daher die Initiierung einer tribologisch induzierten Mikrostruktur in der Nähe einer Kupfer-Zwillingskorngrenze untersucht. Nach nur einer Überleitung einer Kupferprobe mit einer Saphirkugel wurden in der Nähe der Zwillingsgrenze zwei horizontale Diskontinuitäten – dislocation trace lines (DTL) - beobachtet. Die DTL-Bildung wird durch das Vorhandensein der Zwillingsgrenze nicht beeinflusst. Die Zwillingsgrenze kann daher als als Indikator für die auftretenden Verformungsmechanismen dienen. Es wurden drei gleichzeitige Elementarprozesse identifiziert: 1. Eine einfache Scherung des gesamten Materials zwischen der tribologische belasteten Oberfläche und der unteren DTL. 2. Eine stark lokalisierte Scherung auf der Ebene der unteren DTL und 3. Eine Kristallrotation des Materials oberhalb der unteren DTL um eine Achse senkrecht zur Gleitrichtung. Eine systematische Kristallorientierungsanalyse basierend auf hochauflösender Elektronenmikroskopie zeigt eine starke Kompatibilität dieser drei separaten Elementarmechanismen. Außerdem zeigt sich die enorme Stabilität und Reproduzierbarkeit der Bildung einer, oder gar mehrerer, DTL(s).
Die so beobachtete Mikrostruktur kann als Vorläufer des Gefüges zu späteren Zeitpunkten in der Lebensdauer eines tribologischen Kontaktes angesehen werden. Sowohl die grundsätzliche Identifizierung als auch die quantitative Trennung dieser verschiedenen Verformungsmechanismen liefert einen unschätzbaren Beitrag zur Modellierung der Versetzungsbewegung in tribologische Kontakten. Eine zusätzliche Modellierung der damit verbundenen Versetzungstransportprozesse könnte weitere Einblicke oder gar die quantitative und prädiktive Simulation von Reibung und Verschleißprozessen ermöglichen.